Ein bisschen gesunder Menschenverstand – auch im Matheunterricht
Physikprüfung an der Universität von Kopenhagen; Aufforderung an den Prüfling: „Beschreiben Sie bitte, wie man die Höhe eines Wolkenkratzers mit Hilfe eines Barometers feststellen kann.“
Der Prüfling antwortet:
„Sie befestigen ein langes Stück Schnur am Rand des Barometers und lassen das Barometer dann vom Dach des Wolkenkratzers zum Boden hinunter. Die Länge der Schnur plus die Höhe des Barometers entspricht der Höhe des Gebäudes.“
Die Antwort entrüstet die Prüfer; sie wollen den Prüfling durchfallen lassen. Der Prüfling beschwert sich mit der Begründung, dass seine Antwort doch eindeutig korrekt sei. Der Einspruch des Prüflings wird akzeptiert, allerdings wird bemängelt, dass die vorgetragene Lösung kein spezielles Physikwissen beweise. Der Prüfling wird um eine ‚passendere‘ Antwort gebeten. Hierfür bekommt er eine mehrere Minuten dauernde Überlegungszeit eingeräumt.
Der Prüfling nutzt die Überlegungsfrist bis zum Schluss; er scheint intensiv nachzudenken. Dann meint er, dass er mehrere Antwortmöglichkeiten gefunden habe, er aber unsicher sei, welche Antwort denn nun von ihm erwartet werde. Sichtlich genervt fordern die Prüfer den Prüfling auf, endlich seine Lösungen vorzutragen.
„Sie könnten das Barometer vom Dach des Wolkenkratzers fallen lassen und die Zeit messen, die es braucht, um den Boden zu erreichen. Die Höhe des Gebäudes können Sie dann mit der Formel H=0,5g x t im Quadrat berechnen. Das Barometer wäre allerdings zerstört.
Falls die Sonne scheint, könnten Sie die Höhe des Barometers messen, es hochstellen und die Länge seines Schattens messen. Dann messen Sie die Länge des Schattens des Wolkenkratzers. Anschließend ist es eine einfache Sache, anhand der proportionalen Arithmetik die Höhe des Wolkenkratzers zu berechnen.
Wenn Sie jedoch besonders wissenschaftlich vorgehen wollten, könnten Sie ein kurzes Stück Schnur an das Barometer binden und es schwingen lassen wie ein Pendel, zuerst auf dem Boden und dann auf dem Dach des Wolkenkratzers. Die Höhe entspricht der Abweichung der gravitationalen Wiederherstellungskraft T=2pi im Quadrat (l/g).
Sofern das Gebäude eine außen angebrachte Feuertreppe besitzt, könnten Sie seine Höhe dadurch ermitteln, dass Sie die Barometerhöhe anlegen (wie einen Zollstock) und die Anzahl der Barometerlängen ermitteln. (Barometerlänge mal Anzahl = Höhe des Bauwerkes)
Wenn Sie lediglich eine langweilige orthodoxe Lösung wünschen, dann können Sie das Barometer benutzen, um den Luftdruck auf dem Dach des Wolkenkratzers und auf dem Boden zu messen und aus dem Unterschied in Millibar die Höhe des Gebäudes ableiten.
Da wir aber ständig aufgefordert werden, unseren Verstand zu nutzen, wäre es sinnvoller, einfach den Hausmeister zu befragen und ihm als Dankeschön das Barometer zu schenken.“
Diese Anekdote ist ziemlich bekannt – sie wird einer Prüfung des späteren Nobelpreisträgers Niels Bohr zugeschrieben und hat vermutlich niemals so stattgefunden. Das wiederum ist allerdings ganz egal, denn natürlich ist die Geschichte nicht nur unglaublich unterhaltsam, sondern auch irgendwie lehrreich.
Was lernen Kinder in der Schule eigentlich?
Idealerweise sollen Schüler in der Schule nicht nur die Grundbegriffe in den jeweiligen Fächern lernen, sondern auch auf das Leben vorbereitet werden. Die oben genannte Anekdote zeigt jedoch, dass manches, was man in der Schule lernt, nicht sonderlich lebensnah vermittelt wird. Textaufgaben im Matheunterricht sind ein gutes Beispiel hierfür.
26 Schafe + 10 Ziegen = 36 Jahre
In den frühen 1980er Jahren hat Studie an französischen Schulen gezeigt: Schüler rechnen, sobald sie Textaufgaben vorgelegt bekommen. Und das machen sie auch unabhängig davon, ob es sinnvoll ist oder nicht. In den 1980er Jahren wurde französischen Grundschülern die folgende Textaufgabe vorgelegt: „Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?“ Eine erschreckende Anzahl von Schülern hat durch Addition das angebliche Alter des Kapitäns errechnet. Darüber hinaus hat die Anzahl der rechnenden Schüler zugenommen, je älter die Schüler waren.
Der erste Eindruck der sogenannten “Kapitänsaufgaben” also: Die Schüler verdummen immer weiter, je länger sie in der Schule bleiben. Offensichtlich lesen sie sich die Aufgabenstellung nicht richtig durch, sondern rechnen munter drauf los, sobald sie mit Zahlen konfrontiert werden.
Macht Schule Schüler doof?
Dieses Verhalten ist allerdings nicht einmal verwundernswert. Im Matheunterricht lernt man das Rechnen, das wissen alle Schüler. Wenn man also einen Text mit Zahlen bekommt, scheint es ja schon logisch zu sein, dass man mit diesen irgendetwas berechnen muss. Und wenn die Aufgabe keinen Sinn ergibt, dann ist das ja nicht ihre Schuld.
Spätere Studien zeigen auch entsprechend, dass Schüler keineswegs dumm sind. Häufig verstehen sie die Aufgaben selbst nicht und sind entsprechend verwirrt, bemühen sich aber dennoch, Rechenoperationen durchzuführen. Denn dies ist das, was normalerweise im Matheunterricht von ihnen verlangt wird. Wer riskiert auch schon ein eventuell schlechtes Rechenergebnis, nur weil der Text, der ja eigentlich kein Bestandteil des Matheunterrichts ist, keinen Sinn macht?
Sinnvolle Textaufgaben stellen
Textaufgaben sollen dafür sorgen, dass man trainiert, das angeeignete Mathewissen auch praktisch anzuwenden. Sie helfen im besten Fall dabei, ein Grundverständnis zu entwickeln, wann in der “realen” Welt welche Rechenoperationen durchgeführt werden müssen. Dabei hilft schon allein, Textaufgaben wirklich sinnvoll zu gestalten, wie auch das Team vom Recheninstitut bestätigt. Denn wenn nur Situationen vorgestellt werden, in welche das Kind niemals kommen wird, wird es ihm schwerer fallen, es auf Situationen zu übertragen, in welchen die Rechenoperationen wirklich sinnvoll sind.
Kinder müssen auf jeden Fall lernen, die Texte von Textaufgaben zu knacken, bevor sie auf gut Glück anfangen, mit den Zahlen zu rechnen. Dabei kann es ebenfalls hilfreich sein, unnötige Informationen zu einzubauen (wie beispielsweise das Alter der Akteure anzugeben), oder ab und zu wirkliche Kapitänsaufgaben zu stellen. Die Schüler müssen schließlich zunächst lernen, was sie ausrechnen sollen, bevor sie auf die Zahlen losgelassen werden.