Vorlesen – nicht nur in der Grundschule
Vorab eine kleine Anekdote:
Ich stamme aus einer Leseratten-Familie, und bevor ich selbst lesen konnte, hatte mein Vater die Ehre (und die selbst auferlegte Pflicht), mir jeden Abend vor dem Schlafen eine Geschichte vorzulesen. Wäre ich also selbst nicht auch eine Leseratte geworden, hätte er mich vermutlich enterbt. Ich werde niemals vergessen, wie er zu mir sagte: “Und wenn du dann endlich selbst lesen kannst, musst du unbedingt den Herrn der Ringe lesen!” Und da ich es jetzt nicht zu spannend machen will: Ich musste nicht enterbt werden. Natürlich habe ich den Herrn der Ringe gelesen – chronologisch korrekt nach dem kleinen Hobbit (wie die Übersetzung damals noch hieß).
Nicht alle Kinder werden zu Hause zum Lesen animiert
Für meinen Leseunterricht in der Grundschule bedeutete dies also: Ich wollte unbedingt lesen lernen, da ich bereits wusste, welch herrliche Geschichten auf mich warten. Ich muss es nur schaffen, mich im Buchstabengewimmel zurecht zu finden.
Andere Kinder haben allerdings nicht mein Glück: Sie bekommen zu Hause wenig vorgelesen, falls überhaupt. Doch wie soll man Kindern die Freude am Lesen beibringen, wenn sich im Elternhaus vielleicht zwei Bücher finden? Wenn sich tolle Geschichten maximal am Monitor abspielen? Lesen ist zunächst anstrengender als Fernsehen. Wenn sie zu Hause nicht mitbekommen, dass sich die Arbeit lohnen wird, dann fällt Ihnen der Unterricht umso schwerer. Für sie ist Lesen nur ein Unterrichtsfach von vielen, und sie haben keinen außerschulischen Ansporn, es zu lernen. Das wiederum wird sich wie ein Rattenschwanz durch ihre ganze schulische Karriere ziehen, denn ohne Lesen läuft nichts.
Wie bringt man also seinen Schülern bei, dass Lesen Spaß macht? Natürlich, man liest ihnen vor.
Lesen fördern
Professor Dr. Jürgen Belgrad von der Pädagogischen Hochschule Weingarten in einem Forschungsprojekt bestätigt: Schüler profitieren auf vielerlei Arten davon, wenn ihnen regelmäßig vorgelesen wird. Er ist der Meinung, dass Vorlesen fest in den Deutschunterricht integriert werden sollte. Mit seinem Projekt “Leseförderung durch Vorlesen” hat er herausgefunden, dass die Lesefertigkeit der Schüler signifikant steigt, wenn die Lehrerin oder der Lehrer regelmäßig drei bis vier Mal die Woche für zehn Minuten zum Buch greift. Dieses Projekt hat Professor Belgrad mit Hauptschülern der 8. Klasse durchgeführt. Gleichzeitig hat er bewiesen, dass Vorlesen nicht nur etwas für Grundschulen ist, sondern dass Schüler aller Altersklassen davon profitieren.
Wie genau hilft Vorlesen?
Professor Belgrad erklärt den Erfolg damit, dass das Lesen nicht nur aus dem Dekodieren von Schrift besteht. Gleichzeitig entstehen ja die entsprehenden Bilder im Kopf. Nimmt man den Schülern also das Dekodieren ab, können sie sich also ganz auf ihr “Kopfkino” konzentrieren. Dies wiederum kommt ihnen dann zugute, sobald sie selbst lesen: Die Vorstellungskraft sorgt dafür, dass der Dekodierungsprozess schneller automatisiert wird. Außerdem sind Satzstrukturen und Phrasen bereits bekannt.
Darüber hinaus werden laut Belgrad auch soziale Aspekte trainiert, wenn mehr und länger vorgelesen wird. Wenn die Aufmerksamkeit beim Lehrer liegt, wird die Beziehung zu ihm gestärkt. Das gemeinsame Zuhören kann sich also positiv auf das Klassenklima auswirken.
Des Weiteren wird leseschwachen Schülerinnen und Schülern Zugang zu Literatur gewährt. Sie können sich so an Gesprächen beteiligen, aus denen sie sich vorher wegen ihrem geringen Leseverständnis herausgehalten haben. Während Literatur vorher eher für Frust gesorgt hat, stellen sie nun fest, dass Geschichten Spaß machen. Den richtigen Zugang bekommt man dabei aber eben erst, wenn man selbst lesen kann. Dadurch wird der Teufelskreis unterbrochen und die Schülerinnen und Schüler finden neue Motivationen, Lesen zu lernen.
Offizielle Empfehlungen oder persönliche Favoriten?
Wenn man sich Büchertipps von offiziellen Seiten anschaut, wie beispielsweise vom Landesbildungsserver Baden-Württemberg, fällt natürlich auf, dass viele der Romane recht düster wirken. Sie handeln von Flüchtlingen und Fremdenangst, von Mobbing, den Problemen des digitalen Zeitalters und ähnlichen Themen. Somit eignen sie sich besonders, um sie hinterher im Unterricht gemeinsam zu besprechen.
Vielleicht muss es ja aber nicht immer pädagogisch wertvoll sein. Es kommt natürlich immer darauf an, was man mit der Buchwahl erreichen will. Wenn man als Lehrer seine ausgewählte Lektüre wirklich mag, bringt man seine eigene Begeisterung mit ein, und das wirkt ansteckend auf die Kinder. Das klappt um so besser, wenn man es selbst vorliest.
Noch eine Anekdote.
Ich kann mich zugegebenermaßen nicht daran erinnern, was und wie viel mir in der Grundschule vorgelesen wurde – mit einer Ausnahme. Irgendwann gegen Ende der vierten Klasse hat unser Deutschlehrer angefangen, uns Krabat von Otfried Preußler vorzulesen. Das hat sich aus zwei Gründen bei mir eingebrannt: Erstens war das Schuljahr bedauerlicherweise nicht mehr lang genug, sodass er es uns nicht zu Ende vorlesen konnte. Das täte ihm natürlich sehr leid, das hat er uns mehrfach versichert. Er hätte er sich wohl in der Länge verschätzt. Mein naives zehnjähriges Ich hat das zwar geglaubt, aber heutzutage weiß ich: Das war natürlich von ihm so geplant, damit wir nach unserer Grundschulzeit mal freiwillig zu einem Buch greifen.
Und es hat funktioniert, denn Krabat ist unglaublich spannend – was auch der zweite Grund ist, warum es sich bei mir so eingebrannt hat. Wir alle, also auch diejenigen, die nicht ganz so versessen aufs Lesen waren wie ich, wollten natürlich wissen, wie es weitergeht. Ich bin am gleichen Nachmittag in die örtliche Stadtbücherei gegangen, habe es mir ausgeliehen und schnell fertig gelesen.
Das Lesen feiern
Wie viele meiner damaligen Mitschüler dann hinterher wirklich zu diesem Buch gegriffen und es selbst zu Ende gelesen haben, weiß ich leider nicht. Ganz egal aber, welches Buch Sie wählen, ob empfohlene Lektüre für Ihre Klassenstufe oder Ihren persönlichen Liebling aus der eigenen Jugend – wichtig ist nur, dass Sie selbst davon überzeugt sind. Wenn Sie gelangweilt sind, langweilen Sie auch Ihre Schüler. Oder Sie nehmen wirklich Krabat, denn das ist eben richtig spannend.